Roman aus aller Welt
Hey,Richard:
Das bodenlose Mädchen
Laura
Elisabeth alias Betty, nach eigener Definition ganze 13,7 Jahre,
mit nichts in der (Anorak)tasche außer einem alten Plüschaffen,
mit dem sie innige Zwiegespräche zu halten pflegt, aber
ausgestattet mit einem unerschütterlichen Selbstbewußtsein,
befindet sich in einem Stadium permanenter Flucht. Zuerst floh
sie aus einem DDR-Kinderheim, in welches man sie wegen unbotmäßigen
Benehmens steckte, dann aus dem Osten in den gar nicht so goldenen
Westen, und nun ist sie auf der Flucht vor den Handlangern eines
Kinderpornoringes, an den ihre gewißenlose, geldgierige
Mutter sie verschacherte. Da in diese schmutzige Angelegenheit
ranghohe Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik verwickelt
sind, wird es für Laura-Betty ziemlich eng. Als sie auch
noch ein wertvolles Armband klaut, das fatalerweise einen wichtigen
Chipcode beinhaltet wird sie auch noch zur Gejagten internationaler
Geheimdienste.Bißchen viel für ein kleines Mädchen.
Doch mit viel Mut, Intelligenz und Phantasie gelingt es unserer
durchtriebenen kleinen Heldin alle Hindernisse zu überwinden
und ausgestattet mit einer neuen Identität in eine hoffentlich
bessere Zukunft hinüberzuwechseln.
Ziemlich hektisch geht es in Richard Heys neuem Roman zu.Doch
es gelingt ihm nicht dieses Tempo, verbunden mit einer recht
interessanten Persönlichkeitsstudie des "bodenlosen
Mädchens", das Interesse des Lesers länger als
ein Drittel aufrecht zu erhalten. Dann verliert Tempo und Stil
in gleichem Maße an Schwung. Zuviel Plattitüden,
zuviel Klischees. Mit der Figur der Hauptkommissarin Katharina
Ledermacher , die laut Klappentext in vielen seiner früheren,
übrigens hochgelobten Romanen eine wichtige Rolle spielte,
kann der uninformierte Leser wenig anfangen.
Die übrigen Figuren , wie ein warmherziger Knastbruder,
böse Skinheads ,politische Wendehälse, oder das patente
Frauentrio, bei dem Laura-Betty schließlich Zuflucht findet,
sind wenig originell. Einzig die Schilderung der Schattenseiten
des Berlin der kleinen, im Leben zu kurz gekommenen Leute ist
ganz stimmungsvoll gelungen. Hey hatte seine große Zeit
in den 70er und frühen 80er Jahren. Ein Comeback kann man
den vorliegenden Roman meiner Meinung nach nicht nennen.
Richard
Hey.-Berlin:Ullstein,1999.-264S.fest geb.
Irene Minainyo
Wunnicke, Christine:
Jetlag
Es ist dies die Geschichte der Musikerlegende Cuddie Savoy
alias Phineas Sloan. 1969 erleidet er in New York in Folge des
Zusammentreffens von Jetlag, Feuer und Drogenkonsum eine Totalamnesie.
1996: In einem Fahrstuhl eines New Yorker Hotels erwacht ein
junger Mann, der sich im Jahre 1969 wähnt, in der Bademanteltasche
die berühmte Flöte des Cuddie Savoy. Der junge Mann
hat kein Spiegelbild und keinen Schatten. Zur selben Zeit -1996-
sitzt Phineas Sloan in seinem Haus in England und kann sich
nicht erinnern. Beide Männer beginnen zu suchen, in entgegegesetzten
Richtungen. Cuddie realisiert nach und nach den Zeitsprung.
Er irritiert seine Umgebung, er ist für viele ein Déja-Vu
Erlebnis. Cuddie hat das Gefühl sich aufzulösen, es
zieht ihn nach England. Sloan hingegen erkauft sich von seinem
ehemaligen Manager Archie die Erinnerung an die ersten 23 Jahre
seines Lebens. Als Cuddie mit Hilfe von Archie und Archies Sohn
David, der eigentlich sein eigener, beziehungsweise Sloans Sohn
ist, Phineas Sloan gegenübersteht, ist er von seinem Alter
Ego nicht sonderlich begeistert.
Wunnicke treibt ein wunderbares Spiel von Generationen, Zeiten,
der Suche nach sich selbst, der Suche nach anderen. Verwoben,
aber dennoch klar. Sprache und Satzstrukturen entsprechen den
jeweiligen Handlungen. Besonders intensiv erlebt man Cuddies
innere Monologe, Sehnsüchte und Ängste wirken beinahe
plastisch. Die Amnesie zum Thema eines Romans zu machen ist
an und für sich schon eine Herausforderung, die spielerische
Leichtigkeit und gleichzeitige Prägnanz, mit der Wunnicke
an die Sache geht, ist verblüffend und sehr beeindruckend.
Christine Wunnicke ist für mich eine wahre literarische
Entdeckung. Für Fans zeitgenössischer Literatur absolut
empfehlenswert.
München: Albrecht Knaus Verlag 2000. öS.
252 .-
Thomas Jürgens
Maron, Monika
Endmoränen
Johanna,
Ende 50, brütet über der Biografie Willhelmine Enkes,
der Mätresse und Beraterin des berühmten Preußenkönigs.
Aber das Schreiben geht nur schleppend vorwärts. Wo ist
der Schwung, die Begeisterung der früheren Jahre geblieben,
als sie noch als DDR Bürgerin versteckte Botschaften in
ihre Biografien schmuggelte?Alles war damals abenteuerlich,
gefährlich. Nun sitzt sie in ihrem Sommerhaus an einem
idyllischen See und lässt dieZeit Revue passieren. Was
ist aus all denjenigen geworden, die vor 20 Jahren noch so fröhlich,
so kraftvoll waren und glaubten, dass nach dem Fall der Mauer
ein neues, besseres Leben beginnen würde?
Johannas Mann, ein anerkannter Kleistforscher kann in der westlichen
Arbeitswelt nicht richtig Fuß fassen, Tochter Laura, ein
verwöhntes Gör, möchte nach Amerika abhauen.
Als Trost bleiben Johanna nur die Briefe an Christian, dem Freund
aus dem (ehemaligen) goldenen Westen,der für Johanna gleichsam
die "Eintrittskarte" in das "gelobte Land"
darstellte. Doch auch diesem sind mittlerweile seine "Flügeln"
gestutzt worden.
"Endmoränen"
ist ein sehr kluger, sehr einfühlsamer Roman, der die Situation
einer ratlosen, vom Leben enttäuschten Frau zeigt, die
beispielgebend für viele ihrer Generation den Sprung von
der DDR in die "Freiheit" nicht geschafft haben .Ihr
Mann Achim, von dem sie eigentlich nur den , über die (wissenschaftliche)
Arbeit gebeugten Rücken kennt, ihre verkrüppelte Schulfreundin
Irene, Karoline, eine Gutsbesitzerin, die unter Panikattacken
leidet, sie alle sind nicht imstande, sich mit den veränderten
Lebensbedingungen abzufinden.
Nur Elli, lebensklug und genusssüchtig und Igor, der "arrogante
Ruße", der Johanna beinahe zum Verhängnis wird,
haben die Kraft der neuen Zeit entgegenzutreten.
Sehr stimmungsvoll ist die Beschreibung der "Endmoränenlandschaft"
mit ihrem geheimnisvollen See, den ungehobelten Bauern und ,melancholischen
Gutsbesitzern. Kurzum alle Ingredienzien, welche einen stimmungsvollen
Hintergrund bilden. Monika Maron ist Verfasserin zahlreicher Romane,
die sich allesamt gut verleihen.
Frankfurt am Main: S.Fischer,2002.-252 S. €
19,49
Irene Minainyo
Andrew Klavan
Verdächtige Ruhe
Sehr
ruhig ist das Leben in Highbury, einer beschaulichen Kleinstadt
in Connecticut, dem Schauplatz des vorliegenden Romans. Die biederen
Bewohner werden jäh aus ihrem alltäglichen Trott gerissen,
als eine ungeheuerliche Tat passiert. Ein bis dato unauffälliger
Jugendlicher läuft plötzlich Amok. Erst schlägt
er seine Freundin, dann versucht er eine Kirche abzufackeln und
schließlich richtet er eine Waffe auf den ermittelnden Polizeiinspektor.
Nachdem er im Gefängnis einen Selbstmordversuch unternimmt,
wird er in die psychiatrische Klinik von Dr. Bradley verlegt.
Von da an nimmt das Unglück erst richtig seinen Lauf.Als
der Jugendliche während der therapeutischen Sitzungen immer
wieder von einem mystischen Ort im nahegelegenen Wald erzählt,
fasst sich Dr. Bradley ein Herz und sucht heimlich besagten Ort
auf, an den er sich scheinbar vage aus seiner Kindheit erinnert.
Dort sieht er seine über alles geliebte Frau Marie, vorbildliche
Ehefrau und Mutter seiner 3 Kinder , in einer eindeutigen Situation
an der Seite eines unbekannten Mannes. Vom Donner gerührt
beginnt er mit seinen Nachforschungen, die ihn nicht nur in ein
Gespinst von Lügen, Heuchelei, Schuld und Sühne verstricken,
sondern auch auf die Spuren eines lang zurückliegenden Verbrechens
führen.Schmerzlich muß er erkennen, dass nichts so
gewesen ist, wie es schien und er sich der vollen, schmerzlichen
Wahrheit stellen muss..
Der Autor, Verfasser mehrerer sich gut verleihender Krimis, versteht
geschickt Spannung aufzubauen, indem er den Autor als Ich-Erzähler
in Form eines Geständnisses das Schicksal einer wohlhabenden
Familie, kombiniert mit der Aufklärung eines Verbrechens
,erzählen lässt ... Den Hauptteil der Erzählung
nimmt die übergroße Liebe zwischen den beiden Hauptakteuren
ein, die sie schließlich schuldhaft werden lässt. (Titel
der amerikanischen Ausgabe "man and wife") Sehr einfühlsam
auch die Zeichnung des amoklaufenden Jungen, Peter Blue, dessen
Charme und Spiritualität sich scheinbar niemand entziehen
kann. Der polternde Polizeikammissar und der schlaue Pfarrer sind
mehr schmückendes Beiwerk. Sehr dichte Landschaftsschilderungen
(Betonung der mystischen Plätze) wechseln mit den Schilderungen
des Alltags einer typischen "upper-class" Familie. Gerade
diese Gegensätze, der Tanz am Abgrund und die Brüchigkeit
dieser Gesellschaft machen den Reiz des Romans aus.
Dt.
Erstausg.-München: Goldmann, 2002.- 285S.; (Goldmann, 45249)
Aus dem Engl. übers. EUR(A) 8,90
Irene Minainyo